„Eigentlich erfinde ich ganz selten – ich finde.“

Sylvia Lott erzählt über die Entstehung ihrer Inselsalonreihe

Wie kamen Sie auf die Idee zu Ihrer aktuellen Buchreihe?

Ich grübelte schon einige Zeit, hatte für meinen vorangegangenen Roman „Der Dünensommer“ viel Spannendes über die Historie Norderneys erfahren und wollte schreiberisch gern auf der Insel bleiben. Bis zum Ersten Weltkrieg war das Nordseeheilbad ein Treffpunkt der mondänen Welt – Reichskanzler von Bülow kam jedes Jahr für mehrere Wochen, Könige und Fürstinnen, Schauspieler, Sängerinnen, jede Menge Künstler und Unternehmerfamilien mit Kindermädchen reisten an… Aber mir fehlte noch der zündende Funke. Ich ging zum Friseur, genoss die angenehme Atmosphäre und das typische Geplauder dort, fuhr anschließend mit der S-Bahn durch Hamburg nach Hause. An der Haltestelle Kellinghusen dachte ich plötzlich: Warum schreibst du nicht aus der Sicht einer Friseurfamilie auf Norderney? Am besten von der Kaiserzeit bis nach Zweiten Weltkrieg, über drei oder vier Generationen. Im Mittelpunkt sollte ein Inselsalon stehen, in dem große weite Welt und Dorfklatsch aufeinandertreffen. Sofort fing ich an zu recherchieren und je mehr ich herausfand, auch über Frisurenmoden, umso mehr glühte ich für die Idee. Glücklicherweise ließ sich meine Lektorin gleich von der Begeisterung anstecken.

Wie verlief die Recherche?

Als gelernte Journalistin und studierte Historikerin liebe ich es zu recherchieren. Zur Frage nach Dichtung und Wahrheit im Inselsalon gilt: Je berühmter die Figuren, desto authentischer ihre Geschichten. Alle erwähnten prominenten Kurgäste einschließlich des Kaisers sind tatsächlich auf Norderney gewesen. Die geschilderten historischen Ereignisse und Skandale haben sich wirklich zugetragen, die Verbindungen zu meinen (fiktiven) Hauptfiguren jedoch sind erfunden. Da ich nun mal die Vorstellung, Weltpolitik, Prominenten- und Inseldorfklatsch in einem Friseursalon aufeinandertreffen zu lassen, so reizvoll fand, musste ich auch in alle Richtungen Nachforschungen anstellen. Glücklicherweise haben viele Menschen, darunter etliche Prominente, über ihre Erlebnisse auf dieser elegantesten der Ostfrieseninseln geschrieben. Andere erforschten historische Ereignisse, einige stellten Materialsammlungen oder Chroniken zusammen. Das alles hat mir enorm geholfen. Ohne diese „Vorarbeiten“ wäre der Inselsalon nicht möglich gewesen. Mehrfach durfte ich auch im Inselarchiv recherchieren. Es gab übrigens auf der Insel lange Zeit einen Friseursalon Sebes, der bereits im Jahr 1890 gegründet worden war. Und er war nicht der einzige. 1882 arbeiteten laut Statistik der Ortshandwerkerschaft bereits drei, 1913 fünf Friseure auf Norderney, während der Saison auch mehr. Es hat mich sehr gefreut, dass ich mit der über neunzigjährigen Ruth Sebes sprechen konnte, die den Salon nach dem Tod ihres Mannes, der ihn mit ihr in dritter Generation betrieben hatte, bis zum Ende des Jahres 2004 weiterführte.

Was verbindet Sie mit ihren Figuren? Sind die Figuren von echten Menschen inspiriert?

Natürlich sind meine Figuren von echten Menschen inspiriert. Ich bin ganz schlecht im Erfinden. Manchmal sagen Leute mir: Oh, was Sie sich immer alles ausdenken, das ist ja toll – so viel Fantasie hätte ich nicht! Darauf kann ich nur antworten: Eigentlich erfinde ich ganz selten – ich finde. Ich suche, sammle, lege frei, empfange und nehme an. Und dann füge ich diese Zutaten zusammen, bis sie für mich einen stimmigen Charakter, eine Szene, eine Geschichte ergeben, die mir „wahr“ erscheint. Am Ende bin ich sogar meist überzeugt, dass es sich genau so zugetragen hat. Ich glaube, Psychologen nennen das Phänomen (wenn Menschen etwas sich Vorgestelltes für etwas wirklich Erlebtes halten) Quellenverwechslung.

Welchen Bezug haben Sie zum Schauplatz des Romans?

Meinen ersten Inselurlaub erlebte ich im Jahrhundertsommer 1959 als Dreieinhalbjährige auf Norderney. Ich erinnere mich an einen gigantischen Sandkasten am Meer und an den Schlager „Du kleine Fliege, wenn ich dich kriege“, den ich sang, während meine Mutter mit mir durch eine schier endlose Dünenlandschaft wanderte. Ich erinnere mich, dass jeden Tag die Sonne schien. Und dass alle Frauen wunderschöne bunte Kleider trugen. Für mich war es der Prototyp eines Sommers. Alle späteren wurden an ihm gemessen und stets für weniger sonnig, bunt, warm und fröhlich befunden. Deshalb war’s vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis er in einem meiner Bücher auftauchen würde. So entstand „Der Dünensommer“ (2020 erschienen), der in den Jahren 1959 und 2018 spielt.

Um im Zeitfenster von Mai bis September 1959 eine veritable Romanhandlung stattfinden zu lassen, bedurfte es natürlich mehr als ein paar verblassender Kindheitserinnerungen. Also hab ich recherchiert. Zu Atmosphäre, Zeitgeist und Lokalkolorit jenes Jahres auf Norderney, und weil es so spannend war, auch noch zu einigen davor liegenden Jahren. Ich grub immer tiefer. Und so entwickelte sich dann die Idee für den Inselsalon.

Welche Rolle spielen wahre Hintergründe und Fakten?

Einige der im Roman erwähnten Gebäude kann man bei einem Inselbesuch heute noch wiederfinden, andere nicht. Das Conversationshaus zum Beispiel wurde vor einigen Jahren stilvoll restauriert. Aus Scherls Lesehalle, einem 1908 errichteten runden Pavillon, wurde 1936 eine Milchbar, die Keimzelle für die heute noch beziehungsweise wieder bestehende, erweiterte Kultlocation gleichen Namens. Viele der erwähnten Hotels, Logierhäuser und anderen Gebäude, die Norderney zu einem einzigartigen, teils idyllischen, teils mondänen Kurort machten, existieren nicht mehr. Die Gründe dafür sind vielfältig (im Nachwort zu Band 1 gehe ich darauf ausführlicher ein). In den Kriegs- und Nachkriegsjahren waren sie als Soldatenunterkünfte, Lazarette oder durch erzwungenen Leerstand zweckentfremdet worden und heruntergekommen − das Geld für ihre Instandsetzung fehlte anschließend. Oft hatten auch Sturmfluten oder allein das raue Klima ihnen zugesetzt. Hinzu kam der Wandel des Zeitgeistes, der Geschmack änderte sich. Etliche Häuser erkennt man heute auf den zweiten oder dritten Blick hinter modernisierten Fassaden wieder. Ab Ende der Sechzigerjahre erwies sich der Bau von Ferienappartements, besonders in Strandnähe, als einträgliches Geschäft, und so bestimmten immer mehr Hochhäuser mit Meerblick, sechs-, sieben-, sogar zwölfstöckig, die erste Reihe.

Manches, was ausgedacht erscheinen mag, ist wirklich geschehen. So habe ich als junge Lokalredakteurin einmal ein Ehepaar im Landkreis Oldenburg besucht, das seine Eiserne Hochzeit feiern konnte. Es hatte am 1. August 1914 geheiratet, der Bräutigam musste Stunden später in den Krieg ziehen und auf die Hochzeitnacht mussten beide, wie sie mir versicherten, vier Jahre lang warten. Das hat mich als junge Frau nachhaltig beeindruckt. Oder: Bei den Recherchen zum Ersten Weltkrieg stieß ich in der Badezeitung auf eine kuriose Meldung. Eine Frau auf dem ostfriesischen Festland, der man mitgeteilt hatte, dass ihr Mann gefallen war, öffnete Tage später die Haustür – und davor stand der Totgeglaubte in bester Verfassung. Es verschlug ihr im wahren Wortsinn die Sprache. Die kehrte jedoch zum Glück nach einer Weile zurück. Das ist doch irre, oder? Wie mag sich so etwas anfühlen? Als ich davon las, dachte ich sofort: Das möchte ich einmal mit einer Romanfigur durchleben.

Übrigens habe ich jetzt gerade gelernt, dass sogar die Gegenwart Einfluss auf die Rezeption eines Romans hat. Als ich im April, nach Beginn des Ukraine-Krieges, die Fahnen von Band 2 las, den ich schon Wochen vorher fertiggestellt hatte, war ich regelrecht geschockt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse liest sich die Geschichte plötzlich wie ein Kommentar aus der Vergangenheit zu dem, was uns möglicherweise in Zukunft bevorsteht.